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Fake News: Wenn das Vertrauen schwindet

24.02.2025

Historiker Arndt Brendecke spricht im Interview über die Angst vor falschen Nachrichten und die Rolle von Wachsamkeit in Gesellschaften.

Porträt von Prof. Dr. Arndt Brendecke

Arndt Brendecke

© LMU / Stephan Hoeck

Heute Fake News, gestern Corona und zwischendrin immer wieder die Terrorgefahr: Wovor Gesellschaften sich fürchten und worauf Bürgerinnen und Bürger ihre Aufmerksamkeit richten sollen, ändert sich laufend. Für Arndt Brendecke öffnet die Frage nach wachsamer Aufmerksamkeit Perspektiven über Zeit und Raum hinweg. Er ist Inhaber des Lehrstuhls Geschichte der frühen Neuzeit und Sprecher des Sonderforschungsbereichs Vigilanzkulturen, in dessen Rahmen interdisziplinär die historischen und kulturellen Grundlagen von Wachsamkeit untersucht werden. Dabei richten die Forschenden den Blick nicht auf das gut untersuchte Phänomen der Überwachung durch Institutionen, sondern auf die Funktionen und Effekte gegenseitiger Beobachtung innerhalb von Gesellschaften.

Im Gespräch mit dem Historiker wird klar, dass auch die aktuell häufig formulierte Warnung vor Fake News, die im Zuge der Technologisierung so heutig wirkt, alten Mustern folgt und warum die Kommunikation von Gefahren immer auch die Möglichkeit der Manipulation in sich birgt.

Sie untersuchen als Historiker die Bedeutung von Wachsamkeit in Gesellschaften. Woran erinnern Sie die aktuell so häufigen Hinweise, nicht auf Fake News hereinzufallen?

Arndt Brendecke: Aufrufe zur Wachsamkeit sind so alt wie die Menschheit. So gut sie gemeint sein können, haben sie doch häufig eine ambivalente und zum Teil dysfunktionale Wirkung. Einerseits überfordern Appelle zur dauerhaften Wachsamkeit, schon weil wir nicht permanent aufmerksam sein können. Andererseits lassen sie häufig unbestimmt, worauf wir genau aufmerksam sein sollen und inwiefern wir eigentlich verantwortlich sind, solche Beobachtungen zu machen.

Das ist auch ein Ergebnis der Forschung am SFB Vigilanzkulturen: Man könnte denken, dass eine diffuse, unterbestimmte Gefahr schlecht kommuniziert ist, aber de facto sind diejenigen Appelle sehr effizient, die im Ungefähren bleiben. Die Leerstelle ist dann mit individuellen Sorgen füllbar und auf diese Weise sehr anschlussfähig. Der Appell bleibt so auch sehr flexibel und anpassungsfreudig. Alle möglichen Dinge, die passieren, lassen sich unter diese Gefahr subsumieren.

Nach 9/11 in New York gab es die Kampagne „If you see something, say something”, um die Aufmerksamkeit der Bevölkerung (in die Terrorbekämpfung) einzubeziehen. Für ihren Erfolg war das „something“ das Entscheidende: dass nicht gesagt wurde, worauf genau zu achten war und worin die Gefahr bestand.

Ist denn etwas neu an den aktuellen Aufrufen zu Wachsamkeit?

Jede Information, die an uns dringt, muss darauf getestet werden, wie wahr und falsch sie ist. Das ist eine Grundherausforderung für Menschen als kommunikative Wesen. Wir leben im Zielkonflikt zwischen dem Vorteil, mittels Sprache etwas über Umstände erfahren zu können, die wir selbst nicht wahrgenommen haben, und der damit verbundenen Gefahr, von den Sprechern hinters Licht geführt zu werden. Geht es um Mündlichkeit, haben wir ein sehr genaues Sensorium für den Grad der Glaubwürdigkeit. Wir achten auf den Ton, die Gestik, die kleinsten Zeichen. Im Zeitalter des Druckes sind wir auch zu relativ hellhörigen Lesern von Gedrucktem geworden, wie das von Erika Thomalla und Carlos Spoerhase geleitete Teilprojekt aus literatur- und buchwissenschaftlicher Perspektive zeigt.

In der heutigen sich wandelnden medialen Umgebung, mit unzähligen Sendern und permanenten News Cycles, durch die nur noch die schrillste Nachricht dringt, taugt dieses Rüstzeug kaum mehr. Hier zur Wachsamkeit aufzurufen, aber nicht zu erklären wie, überfordert unsere kognitiven Kapazitäten. So allgemein formuliert, mag es sogar zu einer resignativen Weltsicht beitragen, wonach nichts und niemandem mehr zu trauen ist.

Ist auch bei der Warnung vor Fake News nicht ganz klar, worauf zu achten ist?

Ich mag den Begriff nicht. Ich denke, dass sein Gebrauch den Begriff der Wahrheit untergräbt, vor allem aber – und dies von manchen ganz gezielt – das Vertrauen in ‚Nachrichten‘ durch Journalisten. Wenn pauschal von Fake News gesprochen wird, sind wir an der Klippe, wo keiner Nachricht mehr zu trauen ist. Ist aber erst mal alles Fake, dann sind die Einfallstore für Manipulation am Ende noch größer. Das sieht man ja auch an der politischen Entwicklung.

Mithilfe von Vigilanz Geschichte verstehen

Warum eignet sich das Konzept der Wachsamkeit für geschichtliche Forschung?

Es ist sehr reizvoll zu untersuchen, wie Gesellschaften bestimmte Funktionen über die Koppelungen der Kognition vieler erledigen. Das ist eine Art Grundformel der Effizienz von Gesellschaften, die wir bislang kaum thematisiert haben. Und diese Koppelung funktioniert besonders gut über die Beanspruchung von Wachsamkeit: Ich informiere dich über etwas, das du nicht weißt, aber was potenziell für dich oder deine Gruppe gefährlich sein könnte.

Vigilanz, so wie der SFB sie definiert, ist stets ambivalent: Sie kann manipulativ sein, weil man über falsche Gefahren informiert. Sie wird mit Machtansprüchen unterlegt. Denn wer für andere wacht oder zu wachen behauptet, wird daraus einen Anspruch ableiten.

Sie sagten einmal: „Die Geschichte der Aufmerksamkeit zeigt, wovor sich Gesellschaften fürchten.“ Wie meinen Sie das?

Wachsamkeitsargumente funktionierten, weil man darüber Gefährdungen markieren kann –­ der Ernährung, der Umwelt, des sozialen Friedens. Daraus wird aber auch der Anspruch abgeleitet, diese Gesellschaften vor der jeweiligen Gefahr schützen zu können. So funktioniert das sogenannte Fearmongering, eine Politik, die stark auf Gefahrenkommunikation setzt und sich selbst als Lösung für das scheinbar unlösbare Problem präsentiert. Insofern ist Gefahrenkommunikation immer politisch. Sie kann auch zu einer geradezu paranoiden Überforderung führen, die den Bedarf nach einfachen Lösungen schürt. Verschwörungstheorien warnen davor, dass hinter allem etwas anderes steckt. Es ist dann nichts mehr, wie es scheint. Eine solche Krise der Evidenz erodiert die Kapazitäten, sich auf akut dringliche Gefahren konzentrieren zu können. Wenn alles gefährdet ist, mag das dazu führen, dass nichts getan wird.

Wer ruft denn da eigentlich zu Aufmerksamkeit auf?

Alle. Das ist ein weiteres Problem der politischen Dysfunktionalität von Wachsamkeitsappellen: Wenn die eine Partei zu Wachsamkeit aufruft, wird es die andere auch tun. Man behauptet jeweils, das Wahre, das Wichtige, das Gute zu bewahren und zu beschützen, und erklärt sich wechselseitig zur größten Gefahr. Wachsamkeitsaufrufe sind, so notwendig sie sind, oft schwer dosierbar. Sie schaukeln sich hoch.

Corona: andere Aufmerksamkeit, neue Regeln

Wie schnell ändern sich solche Narrative, worauf zu achten ist?

Wir haben alle durch die Covid-19-Pandemie die Erfahrung gemacht, wie schnell sich Aufmerksamkeit verändern kann und wie rasch wir diese adaptieren konnten an eine neue Gefahr. Auf einmal nahmen wir eine Überschreitung von einem bestimmten Mindestabstand zum Beispiel in einem Supermarkt als eine fast schon tödliche Bedrohung wahr. Man sieht daran auch, dass man viele Wahrnehmungen normalerweise abschaltet oder auf unwichtig stellt, allein um seine eigene Aufmerksamkeitsökonomie, sein Stresslevel gut justiert zu halten.

Corona hatte auch gezeigt, wie schnell Menschen bereit sind, andere zu denunzieren, wenn sie etwas nach neuen Regeln „falsch“ machen.

Genau, wir werden immer an die ambivalente Entscheidung herangeführt, ob wir intervenieren, im Zweifelsfall melden. Oder ob wir sagen, das verhält sich noch in einem duldbaren Bereich. Die Rolle als Privatperson ist unterbestimmt, auch in Hinsicht auf die tatsächliche Grenze ihrer Pflichten. Sind wir verpflichtet einzuschreiten, als wären wir ein Stück weit Institution, für die wir einspringen müssen, bevor wir wieder privat werden können? Oder haben wir das Recht und die Möglichkeit wegzublicken? Aber die Unaufmerksamkeit, das Wegblicken, bedeutet ja ein Zulassen von etwas, das potenziell gefährlich werden kann für andere oder einen selbst. Wo also verlaufen die Grenzen der Zuständigkeit und was machen sie mit unseren Gesellschaften?

Ein von Gabriele Vogt geleitetes Teilprojekt des SFBs untersucht die Coronapolitik der japanischen Regierung: Anstatt viele Regeln aufzustellen, hatte diese die Idee einer angeblich alten japanischen Tugend der Selbst-Zurücknahme, des Jishuku, propagiert und es den Nachbarschaften überlassen, sich gegenseitig im Lichte dieses Anspruchs zu beurteilen und zu übertreffen.

Menschliche Verantwortung und technologische Entwicklung

Was ändert sich heute durch all die Technologien, die Gefahren überwachen? Braucht es da überhaupt noch die menschliche Aufmerksamkeit?

Menschen haben nie isoliert, sondern immer in Arrangements Wachsamkeit ausgeübt. Zusammen mit Hunden etwa, aber auch mit spirituellen Wesen wie Schutzengeln. Historisch werden wir immer stärker technologisch umfasst. Das geht bei einfachen Dingen los wie Brillen und Hörgeräten. Es kann über Medien den Raum vollständig überwinden, die auch bestimmte Wahrnehmungen übernehmen. Aber sehr häufig ist der Mensch noch Teil der Reaktionskette. Ein gutes Beispiel ist der Rauchmelder, der nur Lärm macht und den Menschen dazu bringen soll, die Feuerwehr anzurufen. Das zeigt auch, dass es häufig nicht zu einer gänzlichen Entlastung kommt, sondern in vielen Fällen zu einer Neupositionierung von humaner Restverantwortung in technologischen Arrangements.

Sie sagten vorhin, dass die Aufrufe, wachsam zu sein, und die Warnung vor Gefahren zu Verunsicherung führen können. Zeigt der Blick in die Geschichte, dass diese auch wieder abnimmt?

Wir sind mit unserer Forschung noch nicht an einem Punkt, wo man die Summe ziehen kann. Aber ich würde schon meinen, dass es so etwas gibt wie ein Bedürfnis, nach einer relativ schrillen Debatte um Gefahren auch wieder zu einer Entlastung zu kommen. Das kann man auf individueller Ebene sehr gut zeigen. Ab wann eine Gesellschaft ein Bedürfnis danach hat, weniger stark über Gefahren informiert zu werden, das können wir noch nicht sicher sagen, aber Konjunkturen sind schon erkennbar.

Ist der Eindruck richtig, dass in unserer Gesellschaft momentan eher Alarmstimmung herrscht?

Ja, aus vielfältigen Gründen. Aber vigilanzhistorisch betrachtet muss man auch vor der permanenten Warnung warnen. Ich bin aber Historiker, kein Deuter der Gegenwart oder Zukunft. Ich mache keine Appelle, ich untersuche sie. Aus der Vergangenheit kommend würde ich aber schon sagen, dass eine große Aufgabe darin besteht, vertrauenswürdige, seien es mediale oder institutionelle Umwelten zu kreieren, in denen diese Multiparanoia, die Angst vor allem, wieder abgebaut werden kann.

Der Sonderforschungsbereich Vigilanzkulturen:

Im Sonderforschungsbereich Vigilanzkulturen untersuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen Fragen der Aufmerksamkeit in unterschiedlichen historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten. Die Zeitspanne reicht vom Assyrischen Reich bis in die Gegenwart. So werden in Teilprojekten zum Beispiel die Durchsetzung von Kleiderordnungen im Mittelalter, literarische Dynamiken von Beobachtung oder Veränderungen der indigenen Wachsamkeit durch Drohnentechnologie in Amazonien untersucht.

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„Wir wollen sehr spezifische Kontexte besser verstehen und mittel- und langfristig relativ generalisierte Antworten geben können. Es braucht sehr viel Empirie, um zu sehen, ob das, was man glaubt zu beobachten, Zufall oder Muster ist“, sagt Arndt Brendecke.

„Für mich geht es auch immer um die Frage, wie die Geisteswissenschaften anschlussfähig sind an hochrelevante Fragen unserer Gegenwart. Eine ist die Neupositionierung des Individuums und von Gruppen innerhalb technologischen medialen Arrangements, aber auch in dem politischen Gefüge. Was ist unsere Verantwortung? Was sind das für Versprechungen, dass wir einerseits völlig auf den privaten Genuss zurückgeworfen sind, aber andererseits multipel zuständig für die Lösung von sehr vielen Problemen, die den Einzelnen gewiss immer überfordern. Diese stark auseinanderdriftenden Signale besser reflektieren zu können, dazu hoffen wir mit unserer Forschung beitragen zu können.“

Prof. Dr. Arndt Brendecke ist Inhaber des Lehrstuhls für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der LMU und Sprecher des Sonderforschungsbereichs Vigilanzkulturen. In seiner eigenen Forschung hat er sich unter anderem mit Geschichte und Kulturen Lateinamerikas beschäftigt.

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